Jürgen Matz/ Sarah Rubal

Die 

gestohlene 

Stadt


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort................................................................................................7

Prolog...................................................................................................11

1. Kapitel: Das Kleinod am Niederrhein................16

2. Kapitel: Eine Stadt am Scheideweg......................34

3. Kapitel: Unter dem Hakenkreuz.............................65

4. Kapitel: Die gestohlene Stadt....................................98

5. Kapitel: Kriegsjahre..........................................................128

6. Kapitel: Eine verpasste Chance..............................155

7. Kapitel: Die verlorene Stadt......................................184

Epilog.................................................................................................206

Endnoten........................................................................................213

Anmerkung der Autoren..................................................215

7

 

Vorwort

Über alle Grenzen trifft man immer wieder auf Menschen, die stets

betonen aus Uerdingen am Rhein und keine Krefelder zu sein. Auch

ich gehöre dazu. Von manchen Zeitgenossen aus Unwissenheit gerne

als besonderer Lokalpatriotismus oder blasiert als Folklore abgetan,

war es mir stets wichtig, den Hintergrund für meine Haltung zu liefern.

Uerdingen wurde 1929 nicht zu Krefeld eingemeindet, auch nicht

zwangseingemeindet, wie heute oft und gerne, wider besseres Wissen

behauptet, sondern gehört nur aufgrund einer Aneinanderreihung

fataler und intriganter Entwicklungen in der ersten Hälfte des

20. Jahrhunderts zu »Krefeld«. Die rechtlich herausragende Stellung

des ursprünglich vertraglich und gesetzlich festgeschriebenen

Zweckverbandes »Krefeld-Uerdingen am Rhein« der eine wahre

Doppelstadt werden sollte, wird bis heute von offizieller Seite und den

Lokalzeitungen nahezu totgeschwiegen oder despektierlich dargestellt.

In dem Standardwerk der Stadtgeschichte Krefeld - Die Geschichte

der Stadt, 5. Band von Dr. Hans Vogt und Dr. Reinhard Feinendegen

von 2010, werden dem Kapitel keine 15 von 800 Seiten gewidmet.

Ein Zufall? Unbestritten ist, dass das nationalsozialistische Reich ein

Unrechtsstaat war, in dem nach dem Führerprinzip, auf kommunaler

Ebene strikt und rücksichtslos Entscheidungen durchgesetzt wurden.

Unter der unrechtmäßigen Inkorporation Uerdingens zu Krefeld im

Jahr 1940 leidet die Rheinstadt jedenfalls bis heute, denn gravierende

Vertragsinhalte wurden von der Stadt Krefeld bis heute nicht erfüllt

oder gebrochen, wie in der Frage des Baus einer Stadthalle oder bei der

Schließung der Uerdinger Bücherei in 2013. »Uerdingen muß Krefeld

werden« so der Düsseldorfer NSDAP- Gauleiter Florian in einem

 

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Schreiben an den NS- Oberbürgermeister Heuyng, dem Initianten des

auf Unrecht begründeten Namensentwurfes »Krefeld am Rhein«.

Die Namensidee »Krefeld am Rhein« steht für einen besonders

dunklen Teil der Expansion Krefelds in einer Zeit, in der Recht zu

Unrecht wurde. Als der amtierende Oberbürgermeister in 2017, durch

Nutzung als offizielles Signet, den Gemeindenamen »Krefeld am

Rhein« einführen wollte, was durch die Bezirksregierung Düsseldorf

stringent untersagt wurde, war dies der Auslöser für mich ein Buch

über die Entstehung der heutigen Stadt Krefeld herauszugeben und

damit die lokale Geschichte für Krefelder und Uerdinger zu erhalten.

Mit der renommierten Schriftstellerin Sarah Rubal konnte ich eine

versierte Historikerin für das gemeinsame Buchprojekt gewinnen.

Sarah Rubal als Co-Autorin für den Roman zu haben, erwies sich als

Glücksgriff, da sie bereits in den ersten gemeinsamen Gesprächen das

Potenzial und die enorme geschichtliche Brisanz des, durch Quellen

belegten, Sachverhaltes erkannte. Sofort entwickelte sie schon eine

erste Idee, zur Umsetzung der geschichtlichen Ereignisse in einem

fesselnden Roman, der nicht nur Romanliebhaber sondern auch

Historiker in seinen Bann ziehen sollte. So verfassten wir gemeinsam

einen Roman der höchste Ansprüche an spannende Literatur mit

fundierten, regionalen Geschichtskenntnissen vereinen sollte. Das

Ergebnis liegt nun, nach mehr als zwei Jahren intensiver Arbeit vor.

»Geschichte ist spannend« so die Worte von Sarah Rubal, der ich

an dieser Stelle nochmals besonders für ihre Arbeit in dem Projekt

danken möchte. Ich hoffe, mit diesem Werk den missliebigen Teil der

Geschichte dieser Stadt in Form eines investigativen Romans für

zukünftige Generationen Krefelds und Uerdingens erhalten zu haben.

 

Jürgen Matz, Uerdingen am Rhein im April 2020

 

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Als die Nazis eine ganze Stadt stahlen...

 

Als ich im Frühjahr 2018 den Anruf von Jürgen Matz erhielt, in dem er

mir mit knappen Worten sein Buchprojekt schilderte, begann für mich

eine Zeit intensiven Aktenstudiums. Die Vorgänge zur Stadt »Krefeld-

Uerdingen am Rhein«, die von 1929 bis 1940 existierte, sind in den von

von Joachim Lilla bearbeiteten Quellen zu den Krefelder Eingemeindungen

unter besonderer Berücksichtigung der kommunalen Neugliederung 1929,

erschienen 1999 als Teil der Reihe Krefelder Archiv, Quellen und

Forschungen der Stadt Krefeld und des Niederrheins, Neue Folge,

Band 4, herausgegeben vom Verein für Heimatkunde e.V. Krefeld,

umfassend, allerdings nicht lückenlos dokumentiert. Insbesondere

nach 1945 zeigten sich bald für unsere Fragestellung Lücken. Wir

fragten uns, weshalb man 1945 nicht mehr unternahm, um das

geschehene kommunale Unrecht rückgängig zu machen; damals wäre

das nach heutiger Einschätzung noch problemlos möglich gewesen.

Diese Lücken sowie das spannende Verhältnis von Bürgermeister

Wilhelm Warsch zu »seiner Stadt«, den wir in unserem Roman zum

tragischen Protagonisten erklärt haben, rief mein Interesse hervor und

so begannen Jürgen Matz und ich, einen Roman entlang der

historischen Begebenheiten zu entwickeln, in dem es an dramatischen

Situationen, Bösewichten und Heldentaten nicht mangelt.

Ihm gegenüber standen der NSDAP-Kreisleiter Erich Diestelkamp,

der SA-Obersturmbannführer Dr. Alois Heuyng, späterer

Bürgermeister von Krefeld, und der Polizeichef, SS-Standartenführer

Dr. Emil Hürter als Gegenspieler.

Bald schon entwickelte sich in unseren Gedanken ein spannender

Roman,- vor allem aber auch eine Dokumentation mit belegbaren

zeitgeschichtlichen Ereignissen, die in der Gegenwart kaum bekannt

 

10

 

sind. So erstellte Jürgen Matz die Wikipedia-Seite Krefeld-Uerdingen

am Rhein und pflegte mit großer Sorgfalt die von ihm neu

recherchierten Fakten ein, ebenso wie dem Wikipedia-Eintrag zu

Dr. Wilhelm Warsch, von dem wir leider keine lebenden Angehörigen

mehr erreichen konnten.

Wir können also nicht mit Bestimmtheit sagen, ob das Bild, das wir

von ihm zeichnen, ihm gerecht wird oder in seinem Sinne ist wie

immer im Genre »historischer Roman« eine Gratwanderung. Doch für

uns war der Vorwurf der alten Uerdinger, Warsch habe »Uerdingen

verkauft«, Anlass genug, sein Andenken entlang der Quellen ein wenig

geradezurücken. Die Geschichte folgt der Quellenlage, ist aber an

vielen Stellen fiktional erweitert, wie es sich für einen Roman gehört.

Deshalb erhebt auch keine der gewählten Darstellungen den Anspruch,

bewiesener Fakt oder Wahrheit zu sein. Es ist vielmehr der Versuch

einer fiktionalen Annäherung an das, was zwischen 1925 und 1949 in

Uerdingen geschehen sein könnte.

»Geschichte ist ein Roman, der stattgefunden hat, der Roman ist

Geschichte, wie sie hätte sein können«, schrieb der französische Autor

Edmond Huot de Goncourt einmal und das trifft das Verhältnis von

Wahrheit und Fiktion in diesem Buch sehr gut.

Für mich war die Arbeit an »Die gestohlene Stadt« eines der

spannendsten Projekte der letzten Zeit und ich wünsche allen unseren

Lesern eine unterhaltsame und informative Zeit mit dem Produkt

dieser inspirierenden Zusammenarbeit. Ich danke Jürgen Matz dafür,

dass er mich als Historikerin und Autorin in diesem Projekt mit in das

Boot genommen hat und hoffe, dass das Ergebnis viele begeisterte

Leser findet.

 

Sarah Rubal, Frankfurt im April 2020

 

 11

 

 Prolog

 

 Rolf Weckmann parkte den Wagen, den er von der Redaktion der

 »Westdeutschen Allgemeinen Zeitung« gestellt bekam, vor dem

 unscheinbaren Haus, nahe dem Kölner Melatenfriedhof.

 Mit den schulterlangen, dunklen Haaren und in seiner Lederjacke

 und der Hose mit den ausgestellten Beinen setzte Weckmann betont

 auf die Lässigkeit der Hippies, was ihm in der Redaktion nicht nur

 Freunde einbrachte.

 Weckmann kontrollierte, ob er sein Notizbuch, den Bleistift und

 das Aufnahmegerät in seiner Jacke hatte, dann stieg er aus.

 Es war kurz vor Ostern, die ersten Frühlingsboten zeigten sich in

 den spärlichen Grünstreifen zwischen den grauen Häuserfassaden.

 Er klingelte bei Warsch, es dauerte eine Weile, bis jemand

 öffnete. Die Wohnung des ehemaligen Kölner

 Regierungspräsidenten Dr. Wilhelm Warsch lag im 2. Stock, das

 Treppenhaus war eng und es roch nach Rotkohl. Kein wirklich

 bürgerliches Umfeld für einen ehemaligen Zentrumspolitiker und

 ein Gründungsmitglied der CDU, schoss es Weckmann durch den

 Kopf und er beschloss, diesen Widerspruch in jedem Fall zu

 notieren.

 Ein solcher Hinweis könnte nützlich sein, wenn es darum ging,

 Warschs tragische Rolle bei den Ereignissen zwischen 1940 und

 1946 aufzuklären. Anfangs hatte sich Weckmann bei der

 Redaktionssitzung nicht gerade darum gerissen, ausgerechnet diese

 Reportage über einen pensionierten Politiker ohne nennenswertes

 Vermächtnis zu machen, doch je tiefer er in die Fakten zum

 Verschwinden der Stadt Uerdingen am Rhein unter den Nazis

 

 12

 

 eingetaucht war, umso größer war sein Interesse geworden, bis sich

 Weckmann schließlich sicher war, einer größeren Sache auf der

 Spur zu sein. Tatsächlich waren es die Ereignisse jenseits von

 Uerdingen, die mit der Gründung der CDU in der unmittelbaren

 Nachkriegszeit zu tun hatten, die ihn brennend interessierten.

 Eine kleine Frau mit sorgfältig frisiertem grauem Haar öffnete

 Weckmann.

 »Rolf Weckmann, von der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung«,

 stellte sich Weckmann vor. »Ich hatte angerufen, das Interview mit

 Dr. Warsch.«

 Die Frau nickte, trat beiseite und ließ ihn hereinkommen.

 Weckmann streifte seine Schuhe an der sorgfältig gereinigten

 Fußmatte ab und schritt nach drinnen. In dem engen und schlecht

 beleuchteten Flur hingen zahllose Fotos an den Wänden, einige von

 ihnen schon auf den ersten Blick von historischem Interesse.

 Weckmann erkannte gerahmte Urkunden und Fotos mit politischen

 Prominenten, allen voran Konrad Adenauer.

 Wilhelm Warsch erwartete ihn in dem lichtdurchfluteten

 Wohnzimmer, umgeben von deckenhohen Bücherregalen, in denen

 sich zahllose Bände stapelten.

 »Dr. Warsch?«

 Der ehemalige Bürgermeister von Uerdingen saß in einem

 Lehnstuhl, das Gesicht eingefallen, die Haare schlohweiß. Über

 seinen schmalen Knien lag trotz der Wärme im Raum eine Decke.

 Vor ihm, auf einem kleinen Tischchen, stand ein Strauß weißer

 Lilien, die einen schon fast luxuriösen Geruch verströmten.

 »Ich bin Rolf Weckmann...«

 

 13

 

 »Ich weiß, wer Sie sind.« Warsch winkte ihn heran und lächelte

 freundlich. »Ich habe Sie schon erwartet.«

 Weckmann kam näher und zog sich einen Stuhl heran.

 »Wie kommt es, dass sich ein Reporter der Westdeutschen

 Allgemeinen Zeitung für mich altes Eisen interessiert?«

 »Ich bin Journalist, kein Reporter«, korrigierte ihn Weckmann,

 der seinen Notizblock zückte.

 Warsch lächelte weiter freundlich. Weckmann bemerkte seine

 klaren, dunkelbraunen Augen, die ihn unter halb geschlossenen

 Lidern interessiert zu mustern schienen, auch wenn er von Warschs

 starker Kurzsichtigkeit wusste. Aus seinen Recherchen wusste er

 auch, dass der alte Mann vor knapp 14 Jahren einen Schlaganfall

 gehabt hatte und seither teilweise gelähmt war. Sein Kopf aber, das

 konnte er auf einen Blick erkennen, war hellwach.

 »Dr. Warsch, Anlass meiner Recherche ist die geplante

 Gebietsreform. Sind Sie darüber informiert?«

 Statt einer Antwort wies Warsch mit dem Kinn zu einem kleinen

 Stapel Zeitungen, die vor ihm auf dem Boden lagen.

 »Meine Augen sind zwar schlecht, doch noch habe ich meine

 Gewohnheit, jeden Morgen die Zeitung zu lesen, nicht aufzugeben.

 Es war mein Vater, der mir sagte, dass das die wichtigste

 Voraussetzung ist, um eines Tages ein guter Politiker zu sein.«

 »Dr. Warsch...«

 »Oh, bitte, lassen Sie den Doktor weg. Dann fühle ich mich, als

 sei ich wieder an der Universität.«

 »In Ordnung, Herr Warsch, Sie stammen ursprünglich aus

 Viersen, kamen aber in den 1920er Jahren in die damalige Stadt

 Uerdingen am Rhein und wurden alsbald Bürgermeister.

 

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 Der Zusammenschluss der Städte Krefeld und Uerdingen ab

 1929 war vorrangig Ihr Werk, wenn ich die alten Zeitungsberichte

 richtig interpretiere.«

 Warsch nickte langsam, sagte aber nichts, so dass Weckmann

 fortfuhr.

 »Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 wurden Sie aus

 Ihrem Amt vertrieben und kamen nach Köln. Allerdings kehrten Sie

 schon im Frühjahr 1945, kurz nach der Kapitulation zurück und

 setzten sich mit viel Engagement dafür ein, dass Uerdingen kein

 Teil von Krefeld blieb. 1949, zwei Jahre nach Ihrem Abschied aus

 der Stadt, mussten Sie einsehen, dass der Kampf gescheitert war,

 Uerdingen als Stadt verschwand von der Landkarte und ist

 nunmehr nur noch ein Stadtteil von Krefeld.«

 Ein Zug von Bitterkeit zeigte sich um Wilhelm Warschs Mund

 und Weckmann entging nicht, dass seine Mundwinkel zuckten.

 Offensichtlich wühlte die bloße Erwähnung der Ereignisse in dem

 alten Mann einiges auf.

 »Bis 1946 setzten Sie sich, auch in Ihrem Amt als Krefelder

 Oberbürgermeister, dafür ein, dass Uerdingen gewisse Privilegien

 behalten konnte. Doch jetzt steht wieder eine Gebietsreform an und

 damit werden wohl alle noch verbliebenen Sonderrechte

 Uerdingens abgeschafft.«

 Warschs Hände an den Lehnen des Stuhls verkrampften sich so

 sehr, dass die Knöchel weiß hervortraten.

 »Was damals geschah, war Unrecht«, presste er hervor und

 stemmte sich umständlich in dem Stuhl nach oben. Dann plötzlich

 verließ die Anspannung seinen Körper, seine Gesichtszüge wurde

 wieder weich, die verkrampften Hände lösten sich. Er ließ sich in

 seinen Sessel zurücksinken.

 »Ich habe meinen Frieden mit Uerdingen gemacht. Ich hoffe nur,

 dass die Uerdinger auch mit mir irgendwann ihren Frieden machen

 können«, sagte Wilhelm Warsch. »Wenn man eine Geschichte

 erzählen möchte, dann sollte man ganz am Anfang beginnen,

 immerhin nehmen Dinge so ihren Verlauf und das sollten wir Ihren

 Lesern nicht vorenthalten. Und diese Geschichte beginnt 1925.«

 

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 1. Kapitel: Das Kleinod am Niederrhein

 

»Gerta? Gerta! Wo bleibst du denn?« Wilhelm Warsch strich sich

 das dichte, akkurat geschnittene Haar aus der Stirn und betrachtete

 zufrieden die Fassade ihres neuen Zuhauses, die man anlässlich

 ihres Einzugs in der Augustastraße 14 neu gestrichen hatte.

 Wilhelm hob seinen einjährigen Sohn Wolfgang hoch.

 »Siehst du, Wolfi, da werden wir in Zukunft wohnen! Wie gefällt

 es dir?«

 Gerta, die in ihrem nach der neuesten Mode an den Hüften

 besonders eng geschnittenem Kleid Schwierigkeiten hatte, aus dem

 Wagen zu steigen, den sie zu ihrer Hochzeit von Wilhelms Vater

 Heinrich erhalten hatten, folgte Wilhelm und Wolfgang nach

 drinnen.

 Wilhelm setzte seinen einjährigen Sohn ab und schritt in da

 schattige Treppenhaus, dessen Boden mit einem schwarz-weißen

 Schachbrettmuster ausgelegt war. Es roch nach frischem

 Bohnerwachs. Er griff das gewundene Treppengeländer aus

 dunklem Holz und lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend,

 die Stufen hinauf in die großzügige Beamtenwohnung im zweiten

 Stock.

 Die weißen Flügeltüren standen offen, am Eingang erwartete sie,

 in Schürze und Haube, die Hausangestellte Martha, die ihnen, wie

 die Wohnung, von der Stadt Uerdingen gestellt wurde. Als sie

 Wilhelm Warsch, den groß gewachsenen und gut aussehenden

 Mann mit der hervorstechenden Nase und den wachen Augen, sah,

 machte sie einen Knicks, doch der designierte Bürgermeister

 Uerdingens ergriff fröhlich ihre Hand und drückte sie.

 

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 »Herrlich, Gerta, schau doch nur, die großen Fenster, weit hinten

 kann man die Buss-Mühle ohne Flügel und die Häuser im

 Westbezirk an der Lindenstraße erkennen.«

 Gerta, die am Fuße der Treppe stand, raffte ihre Röcke und

 folgte ihrem Mann lächelnd nach oben. Es war eben jener

 Überschwang, den sie an ihrem Mann so liebte. Er war Beamter,

 wie schon sein Vater, und hatte es in seiner Geburtsstadt Viersen in

 der Stadtverwaltung weit gebracht; zuletzt war er in München-

 Gladbach Stadtdirektor und Leiter des Wohnungsamtes gewesen.

 Es war erst wenige Monate her, dass sich ihr Mann der

 Zentrumspartei angeschlossen und sich entschieden hatte, im 30 km

 weit gelegenen Uerdingen für das vakante Amt des Bürgermeisters

 zu kandidieren, keine leichte Aufgabe für einen Stadtfremden.

 Wochenlang hatte Wilhelm an seinem Programm gefeilt und es

 immer wieder verbessert.

 Der große Krieg war nun sieben Jahre vorbei und damit auch die

 Monarchie, doch noch immer gab es viele, die sich nicht an die

 neuen demokratischen Verhältnisse gewöhnt hatten.

 Für die Menschen im Rheinland war es auch nach dem Ende des

 großen Krieges nicht wirklich ruhiger geworden. 1922 war

 Deutschland mit den drastisch hohen Entschädigungszahlungen an

 Frankreich, den sogenannten Reparationskosten, in Rückstand

 geraten. Daraufhin hatten französische und belgische Truppen das

 Ruhrgebiet besetzt, da sich dort das Zentrum der wertvollen

 deutschen Rüstungsindustrie befand. Reichspräsident Stresemann

 hatte zum »passiven Widerstand« aufgerufen, der den deutschen

 Staat so viel Geld gekostet hatte, dass man nun mit der Inflation

 

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 kämpfte. In wenigen Monaten, im Januar 1926 würden die letzten

 belgischen Besatzungstruppen vom linken Niederrhein abgezogen.

 Nun standen alle Zeichen auf Wiederaufbau und Fortschritt.

 So auch in Uerdingen, in der alten Rheinstadt hatte Politik

 Tradition und man hatte Warschs fortschrittliches Programm, das

 einen Ausbau der rheinabhängigen Industrie vorsah sowie die

 rasche Eingemeindung einiger benachbarter Gemeinden wie etwa

 dem Dorf Hohenbudberg, mit Wohlwollen aufgenommen und ihn

 vor einer Woche mit nicht einmal 30 Lebensjahren zum jüngsten

 Bürgermeister Deutschlands gemacht.

 Gerta betrat die Wohnung, deren sechs Zimmer durch einen

 langen Flur miteinander verbunden waren. Sofort bemerkte sie, wie

 angenehm das Licht durch die hohen, doppelt verglasten Fenster

 einfiel, außerdem die großzügig geschnittenen Kamine in den

 Wohnräumen. Von besonderer Bedeutung war das elektrische Licht,

 das in allen Zimmern verfügbar war.

 Noch waren die Zimmer beinahe leer. Aus ihrer im Vergleich

 dazu kleinen Wohnung aus München-Gladbach hatten sie nur

 wenige Stücke mitnehmen können.

 »Wir richten uns ganz neu ein«, hatte Wilhelm gesagt und Gerta

 war einverstanden gewesen.

 »Das hier wird dein Zimmer sein«, sagte Wilhelm gerade und

 zeigte seinem Sohn ein ganz am Ende des Zimmers gelegenes

 quadratisches Zimmer mit hellblau gestrichenen Wänden, in dem

 sich bereits einige Spielzeuge von Wolfgang befanden.

 Der kleine Junge klatschte in die Hände und stieß einige

 Freudenlaute aus. Wilhelm wirbelte mit ihm auf dem Arm herum

 

 18

 

 und lief den Flur zurück zu Gerta, der er übermütig einen Kuss auf

 die Wange drückte.

 »Hier werden wir sehr glücklich werden, liebste Gerta, ich kann

 es spüren. Und wie viele Zimmer wir haben! Das ruft doch

 geradezu nach einem ganzen Stall von Kindern, was meinst du?«

 Gerta errötete ein wenig und senkte den Blick, doch ihr Lächeln

 wurde noch eine Spur breiter. Nun, wo Wilhelm sein politisches

 Ziel vorerst erreicht hatte, konnte man darüber nachdenken. Gerta

 streifte ihren Hut und die Handschuhe ab und hing ihren Mantel an

 die Garderobe, bevor sie Martha begrüßte.

 »Martha, wollen Sie mir die Küche zeigen? Ich denke, es gibt

 einiges, das ich zu lernen habe. Mein Mann gibt schon in zwei

 Tagen einen Empfang für einige Stadtverordnete und ich habe noch

 keine Ahnung, was wir auftischen sollen.«

 Martha wiederholte ihren Knicks und wandte sich dann nach

 rechts, wo sich die große Küche mit dem modernen Gasherd befand.

 Wilhelm, der in den vergangenen Wochen anlässlich der

 Stadtverordnetenversammlungen immer wieder in Uerdingen

 gewesen war, setzte den kleinen Wolfgang bei seiner Mutter ab.

 »Ich werde einen kleinen Spaziergang machen. Die Sonne da

 draußen ist so herrlich und es kann nicht schaden, den einen oder

 anderen Bürger gleich persönlich zu begrüßen.«

 Beim Blick in den Spiegel korrigierte er den Sitz seines Hutes

 und des Anzuges, dann war er schon hinaus auf die staubige

 Augustastraße, auf der nur selten einmal ein Fahrzeug entlang fuhr.

 So manchen seiner Nachbarn hatte er schon kennen gelernt, wie

 den Herrn Direktor Robert Seyfarth aus Haus Nr. 22, der glühender

 Schwimmer beim ASC Duisburg war und sofern er Zeit hatte, zum

 

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 Barbarasee nach Wedau fuhr. Der Katasterangestellte Schmidt, aus

 Haus Nr.15 hatte sich ihm recht früh bekannt gemacht, da Wilhelm

 ja nun sein Amtsvorgesetzter war. Im gleichen Haus, der Studienrat

 Schönigh. Besonders wichtig war ihm aber seine eher zufällige

 Bekanntschaft mit dem Uerdinger Armenwart, Josef Herding im

 Haus Nr. 28, konnte dieser ihm doch aus erster Hand über Armut

 und das Armenwesen in der Stadt Uerdingen berichten.

 Die Augustastraße kreuzte die breit gebaute Krefelder Straße

 und genau dieser folgte Wilhelm an diesem heißen Spätsommertag

 um die Mittagsstunde.

 Wer genau hinsah und hinhörte konnte verfolgen, wie er hin

 und wieder in fast tänzerischer Leichtigkeit den einen oder anderen

 Hüpfer beim Gehen einbaute und dabei ein Lied pfiff.

 Die Krefelder Straße, die ihren Namen erhalten hatte, weil sie

 nach Krefeld führt, jenem ungeliebten Nachbarort, der in einer

 rasenden Entwicklung des letzten Jahrhunderts durch seine Samtund

 Seidenproduktion zur Großstadt und 1890 sogar zur reichsten

 Stadt des Kaiserreiches erklärt wurde.

 Krefeld fand daher in mittelalterlichen Aufzeichnungen nur

 wenig Erwähnung, Uerdingen hingegen, mit seiner langen

 Rheinfront, den Handwerksgilden, dem blühenden Handel und

 seinen Traditionen, wurde bereits 1255 von dem Kölner Erzbischof

 Konrad von Hochstaden zur Stadt erhoben. Jenem Erzbischof, der

 1248 den Grundstein zum Kölner Dom legte. Grund genug, um auf

 das inzwischen weit größere Krefeld herabzublicken und es in

 zahlreichen Spottreden, vor allem während des Karnevals, dem

 Oeding‘sche Fastelovend zu verhöhnen. All das hatte Wilhelm bereits

 

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aus Gesprächen mit den Einheimischen erfahren. Die Feindschaft

mit Krefeld gehörte zum Uerdinger Lokalkolorit, soviel stand fest.

Krieewelsche Wengkbühel nannte man die Nachbarn und rühmte

sich zugleich der zahlreichen Verdienste und Besonderheiten

Uerdingens.

Dennoch hatte Uerdingen ein geografisch bedingtes Problem:

Im Osten durch den Rhein begrenzt, im Norden durch die wachsenden

Industriegebiete und die große Landgemeinde Rheinhausen, im

Westen und Süden durch die vielen benachbarten Ortschaften, allen

voran Krefeld, gab es für die Stadt Uerdingen kaum noch Möglichkeiten,

zu wachsen und sich weiter auszudehnen. Im Stadtkern waren die

Straßen historisch bedingt, so schmal, dass hin und wieder die Automobile

gar nicht hindurch kamen. Daran änderte auch der Abriss des letzten

beengenden Stadttores 1877 nichts. Wollte Uerdingen nicht abgehängt

werden, hieß es wachsen und dafür war Warsch durchaus bereit,

auch ungewöhnliche Wege zu gehen. 

Wilhelm spazierte auf eben jener Krefelder Straße in Richtung der

Uerdinger St. Peter Kirche mit dem mächtigen romanischen Turm

und ihren vier auffälligen, barocken Ecktürmchen.

Am Brempter Hof, einer bröckelnden, mittelalterlichen Anlage,

mit einem kleinen verwunschenen Garten, legte er eine kurze Pause ein.

Nicht weit von ihm dösten zwei Bettler in der Sonne. Das Elend

war auch in Uerdingen gegenwärtig, hervorgerufen durch den Krieg

und die seit Jahren grassierende Inflation. Die Armenküchen der Städte

wurden Tag für Tag von Bedürftigen geflutet, das war in

München-Gladbach nicht anders gewesen.

 

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